“Embrace this shit!”

Die Kolumne "New Leadership" im Harvard Business manager von Wolfgang Jenewein

Entdecken Sie auch die erste Folge des Podcasts Moving Mindsets mit Oliver Heer, in der er faszinierende Einblicke in sein Leben allein an Bord gewährt.

Allein die Welt umsegeln – das ist das ganz große Abenteuer für Solosegler wie Oliver Heer. Seit dem 10. November ist der Schweizer bei der härtesten Regatta der Welt, der Vendée Globe, dabei. Den ersten Test im Frühjahr auf der Transatlantik-Route hat er nur knapp überlebt. Was ihm half, einen Albtraum zu überwinden.

Im Frühjahr 2024 startete die transatlantische Regatta Transat CIC, eines der schwersten Segelrennen überhaupt. Auch mein Coachee Oliver Heer, einer der besten Segler der Welt, ging an den Start. Vor ihm: 5500 Kilometer von Lorient in der Bretagne nach New York, die er im Solo Race allein auf seinem Boot bestreiten musste. Wir wussten, es würde hart werden. Aber dass es so hart werden würde – damit hatte keiner gerechnet.

Gerade in Extremdisziplinen gehen Profisportler wie Oliver bewusst an ihre Grenzen. Sie setzen sich enormen Belastungen für Körper und Psyche aus. Unmengen an Zeit und Energie fließen in die Vorbereitung für den Wettkampf. Doch bei aller Leidenschaft, Disziplin und Erfahrung können sie in Situationen kommen, in denen sie nicht mehr weiterwissen. Wenn Menschen das Gefühl haben, die Kontrolle zu verlieren, droht ihr Kampfgeist zu brechen. Mit womöglich fatalen Folgen. 

Blackout im Dunkeln

Es ist nachts, Oliver macht gute Fahrt. Er durchkreuzt anspruchsvolle Gewässer im Atlantik bei Neufundland. Keine 10 Meilen von der Stelle entfernt, an der einst die Titanic nach einem Zusammenprall mit einem Eisberg sank, beträgt die Wassertemperatur 5 Grad Celsius. Der Autopilot ist aktiviert und er geht gerade für ein 20-Minuten Powernap unter Deck. Mehr Schlaf gibt es nicht am Stück. Plötzlich gibt es einen heftigen Schlag. Das Boot macht bei voller Fahrt eine Halse, der Wind drückt das Segel ins Wasser bis zu einer Schräglage von 120 Grad. Nur die besondere Konstruktion des Schiffs mit einer großen Kielbombe verhindert das vollständige Kentern. Binnen Sekunden dringen mehr als 3000 Liter Wasser ein und führen zu einem Totalausfall der Elektronik..

Unter Deck wird Oliver kopfüber herumgeschleudert, kann sich gerade noch abfangen. Trotz seiner Erfahrung packt den 36-Jährigen in diesem Schockmoment die Angst. Er muss gegen die Panik ankämpfen, weiß um die akute Lebensgefahr in einer solchen Extremsituation. Es bleibt keine Zeit, um daran zu denken, was passiert wäre, wenn er über Bord gegangen wäre oder sich schwer verletzt hätte. Es kommt jetzt auf jede Sekunde an. In absoluter Dunkelheit in der Mitte des Atlantiks kämpft Oliver über Stunden, um das Schiff zu stabilisieren. Irgendwann schafft er es, die Notfallpumpe zu bergen und das Aggregat zum Laufen zu bekommen. Parallel schöpft er mit einer Plastikschale händisch das eiskalte Wasser raus.

Der Kampf scheint aussichtslos. Die Segelfläche wurde auf 20 Prozent reduziert. Der Autopilot irreparabel beschädigt. Bei 3 Grad Lufttemperatur ohne Wind und Strom ist er völlig durchnässt 1500 Kilometer von der Küste entfernt auf offener See gefangen. Allein.

Sein Team in der Zentrale in Südfrankreich macht sich ernsthaft Sorgen. Sie melden sich bei uns mit den Worten: „Wolfgang, Oliver ist in einer mentalen Krise. Kannst du mit ihm sprechen?“ Uns bleibt nur wenig Zeit. Das Satellitentelefon für Notfälle funktioniert nur kurz. Ich bin nervös, versuche aber ruhig zu bleiben. Oliver braucht jetzt eine klare Maxime, an der er sich festhalten kann – und nicht aufgibt.

Ich rufe ihm zu: „Hör auf, dich zu beschweren. So hart es auch ist, es ist, wie es ist. You are fucking made for this. Du kommst da wieder raus, aber nur, wenn du anfängst, es zu akzeptieren. Embrace this shit!”

Oliver sagt nicht viel und die Verbindung wird gekappt. Später erzählt er, wie er die drei Wörter auf seine Bootswand geschrieben hat und sagt: „Dieser Satz half mir, meine innere Stärke wiederzufinden und das Rennen erfolgreich zu Ende zu bringen.“

Mit radikaler Akzeptanz die Kontrolle zurückgewinnen

In der Forschung spricht man – zugegeben etwas gewählter – von radikaler Akzeptanz. Es bedeutet, die Realität anzunehmen, wie sie ist. Es bedeutet nicht, aufzugeben oder passiv zu werden. Vielmehr ist es der Ausgangspunkt für kreative Lösungen. Anstatt in negativen Emotionen festzustecken, ermöglicht sie uns, klar zu denken und neu zu handeln. Statt damit zu hadern, was wir nicht ändern können, fokussieren wir uns auf den nächsten konkreten Schritt. Studien zeigen, dass Menschen, die radikale Akzeptanz üben, nicht nur ihre Emotionen besser regulieren können, sondern auch resilienter und kreativer sind.

Auf unsere innere Haltung kommt es an

Auch in unseren Unternehmen erleben wir derzeit viele, mitunter existenzielle Krisen. Krieg, Rezession, Fachkräftemangel und noch vieles mehr stellen uns vor große Herausforderungen. Das führt schnell zu Frust und einem allgemeinen Beschweren. Aber auch hier gilt: „Embrace this Shit!“ Die Haltung, mit der wir auf Herausforderungen reagieren, macht den Unterschied. Radikale Akzeptanz bedeutet, die Kontrolle über das, was wir beeinflussen können, zurückzugewinnen, indem wir das akzeptieren, was wir nicht kontrollieren können.

Wie der Neurologe und Psychiater Viktor Frankl sagte: „Alles kann einem Menschen genommen werden, nur eines nicht: Die letzte der menschlichen Freiheiten, die Wahl der eigenen Haltung in einer gegebenen Situation.“

Wie sieht es bei Ihnen und in Ihrer Organisation aus? Lamentieren die Menschen in Ihrem Umfeld noch oder akzeptieren sie schon?

Abonnieren
Benachrichtigung von
0 Kommentare
Inline Feedbacks
Alle Kommentare anzeigen

© , Jenewein AG